© Ilija Trojanow
Wie schreibt man einen Roman über die Klimakatastrophe?
Wahrscheinlich hätte ich niemals begonnen, einen Roman über dieses Thema zu verfassen, wäre ich nicht von einem Traum heimgesucht worden, besser gesagt von einem Alptraum:
Ein Mann liegt auf einer Geröllhalde, umgeben von einem Gletscher, der nicht mehr existiert. Der Mann ist Glaziologe, er hat das Objekt seiner wissenschaftlichen Leidenschaft für immer verloren. Er ist unendlich traurig und ratlos. So weit der Traum, unvergesslich, da keinem Aspekt meines eigenen Lebens entsprungen. Der Mann war mir unbekannt, und ich kannte zu jenem Zeitpunkt keinen einzigen Gletscherforscher, ich hatte mich noch nie mit Gletschern beschäftigt.
Der Alptraum ließ sich nicht verdrängen. Je öfter ich an den Menschen, der seinen Gletscher „verloren“ hatte, dachte, desto tiefer versank er in eine Sinnkrise und Zivilisationsskepsis, in eine weitreichende Ablehnung unserer Wirtschaftsweise, Lebensart und Spiritualität. Gemeinsam begaben wir uns auf die Suche nach Lösungen und Erlösung und fanden sie vorübergehend an jenem Ort, an dem Eis und Gletscher (noch) wenig von der Großen Schmelze bedroht sind, in der Antarktis. Also heuert der ehemalige Glaziologe auf einem Kreuzfahrtschiff an, als Lektor, als Fachmann, als Führer. Doch so sehr ihn die Unberührtheit der Antarktis beseelt, so sehr bekümmert ihn das Wissen um ihr Schicksal, sollte sich der Mensch einmal ihrer bemächtigen. Visionen von ihrer Vergewaltigung und Plünderung belagern ihn, ausgelöst von Kleinigkeiten, von einer Zigarette, die ein Soldat zwischen Pinguinen wegwirft, von der Havarie eines anderen Schiffes und von den arroganten oder unbedachten Äußerungen der Passagiere an Bord. Die Antarktis ist der letzte heilige Hain auf Erden — die Vorstellung ihrer Zerstörung ist für den Gletscherforscher unerträglich. Er muß verhindern, daß die Menschheit weiter in die Antarktis eindringt.
Während die Anrainerstaaten es nicht erwarten können, die Bodenschätze der Arktis abzubauen, ist weiterhin der Antarktis-Vertrag wirksam, der jegliche wirtschaftliche Nutzung untersagt und territoriale Ansprüche einfriert, immerhin bis zum Jahre 2048. Während mit dem Ende der Arktis schon nüchtern gerechnet wird, läßt sich die Antarktis noch retten.
Der Poesie einer unbekannten Landschaft
Also schiffte ich mich ein, auf einem jener Luxuskreuzer, die im Sommer des Südens von Ushuaia im tiefsten Patagonien zur antarktischen Halbinsel aufbrechen. Wir fuhren den Beagle-Kanal hinab, die geographischen Punkte hießen Mount Misery und Cape Deceit, Last Hope Bay und Fury Island. Das war, literarisch gesehen, ein gutes Zeichen. Bald schon erlag ich der Poesie einer unbekannten Landschaft. Die Antarktis ist nicht leicht zu (be)greifen. Erst seit zwanzig Jahren (also etwa so lange, wie wir von den realen Gefahren der Klimaerwärmung wissen) werben niedliche Pinguine Touristen an. Davor war die Antarktis fast unzugänglich. Immer noch stößt man hier auf die letzte Grenze der Zivilisation, auf die letzte Wildnis.
Wenn man auf dem Außendeck steht und hinausblickt, läßt sich jegliche Zivilisation leicht vergessen (die leisen Motorengeräusche nimmt das Ohr kaum wahr): kein Flugzeug, kein Treibholz, kein Mast in Sicht, nur Wind und Wellen, nur uralte Formationen aus Eis und Gestein, die sich (noch) ohne unser Zutun wandeln, nur stille Vögel, die flüchtige Nachrichten in den monochromen Himmel zeichnen, die wir nicht entziffern können. Eisberge. Memento mori. Vorratskammern. Sie enthalten das frischeste Wasser und die reinste Luft, die wir auf Erden haben, vor Tausenden von Jahren in die Kristalle eingeschlossen und nun bei langsamer Fahrt schmelzend gelöscht. Eis ist das vielfältigste aller Elemente: je nach Situation Festkörper oder Gas oder Wasser. Zudem eine Art Gedächtnis der Erde. Die Eisbohrungen des europäischen Eiskernprojektes in der Antarktis haben schon eine Tiefe von 900 000 Jahren erreicht. Und entlang des Weges hinab wird unsere planetarische Vergangenheit sichtbar. Allmählich entsteht auch in mir eine zärtliche Beziehung zum Eis.
Kälteidiotie ist ein medizinischer Ausdruck für eine Wahnvorstellung.
Unser Schiff glitt durch einen natürlichen Kanal, zu beiden Seiten weiße Wände, so weit das Auge hinaufreicht, und vor uns die schwarz schimmernde Oberfläche eines gläsernen Wassers. Die Welt war unmerklich in eine Kreidezeichnung verwandelt worden. Wir standen eingemummt und dichtgedrängt auf dem Außendeck, stumm, regungslos, als wären wir Zeugen einer Segnung. Wir versanken in demutsvolles Schweigen, Ausdruck einer Überwältigung, die sich seit Tagen aufgebaut hatte — seit dem Sichten der ersten Albatrosse, der ersten Eisberge, der ersten Wale, der ersten spitzen Inseln. In der Antarktis verspürt man das Gefühl, eine Zumutung zu sein. Als Mensch. Die verzweifelte Unsicherheit des Glaziologen wird genährt von den Pockennarben menschlicher Besiedlung am Rande der Antarktis, von den Ruinen von Walfangstationen, verrosteten Massenvernichtungsanlagen.
Kälteidiotie ist ein medizinischer Ausdruck für eine Wahnvorstellung. Der Erfrierende bildet sich ein, ihm sei heiß, er zieht sich aus, obwohl sein Körper stark unterkühlt ist. Wir leiden, denkt der Glaziologe, an einer Wärmeidiotie, wir heizen mehr und mehr auf, obwohl wir dabei sind, eines Hitzetodes zu sterben. Ein Erfrierender ist in dem Stadium der Kälteidiotie nicht in der Lage, sich selbst zu retten.
Es war eines der bedrückendsten Anblicke meines Lebens
Nach meiner Rückkehr von der Antarktis war ich entschlossen, diesen Roman zu schreiben, und suchte zum Zweck der weiteren Recherche einen führenden Glaziologen auf. Er hörte sich meine Geschichte höflich an, dann fragte er, wie alt meine Hauptfigur sei. So alt wie Sie, antwortete ich (Anfang bis Mitte sechzig). Als junger Doktorand, sagte der professor, ging ich wie selbstverständlich davon aus: Wenn wir das Problem richtig analysieren, werden wir es lösen. Wenn wir begreifen, wie etwas lebt, dann können wir es am Leben erhalten. Es brauchte nur stichhaltige Beweise, um die Welt zu verbessern. Fortschritt sei nur eine Frage der Präzisionsarbeit. Die Belege würden uns dann als Blaupause für richtige Entscheidungen dienen. Wir haben uns getäuscht.
Dann zeigte mir der Professor auf einem Bildschirm Satellitenaufnahmen vom Sterben eines Gletschers. Es war eines der bedrückendsten Anblicke meines Lebens. Innerhalb weniger Jahrzehnte verliert der Gletscher rasant an Masse, an Volumen. Seine Oberfläche wird dunkler, das Eis absorbiert die Strahlen der Sonne um so stärker, ein tödlicher sich selbst verstärkender Effekt, von den Wissenschaftlern Run-away-Effekt genannt (poetischer: point of no return). Dann zerfällt der Gletscher in kleine Stücke. Bruchstücke nur, einzelne Glieder, als wäre sein Leib von einer Bombe zerfetzt worden. Nur noch Fetzen eingedunkelten Eises über den Hang verstreut, wie Bauschutt, der darauf wartet, entsorgt zu werden. Alles Leben ist ausgeapert.
Auch erklärte mir der Professor, weshalb wir Katastrophen nicht vorausberechnen können. Kein Modell kann das Ungewisse beziffern, die vielfältigen Folgen, die den Prozeß der Erwärmung potenzieren können, etwa weitere Treibhausgase, die durch das Schmelzen des Permafrosts freigesetzt werden. Kein Modell kann Dominoeffekte berücksichtigen. Es handelt sich nicht um einen linearen Verlauf. Kleine Inputs können alles auf den Kopf stellen, so wie ein Eisberg plötzlich umkippen kann (tatsächlich!).
Jede punktuelle Lösung verunsichert das System noch mehr und führt zu einer potentiell unendlichen Zahl von unvermuteten Folgen. Übersetzt ins Mythische bedeutet die Komplexitätstheorie, dass unsere aus dem Gleichgewicht geratene Erde ein Labyrinth ist, in dem die allermeisten Abzweigungen in ein jeweils anderes Verderben führen. Mein Optimismus schmolz beim Zuhören dahin. In der Politik hingegen werde behauptet, man müsse A tun, damit B folge, das Problemlösungsverfahren sei linear. Und wie geht es weiter, fragte ich beim Abschied. Das weiß ich nicht, sagte der Professor mit ruhiger Stimme, eines nur erscheint mir gewiß: Bislang ist es stets schlimmer gekommen, als wir Spezialisten es erwartet haben. Nichts deutet darauf hin, dass sich daran etwas ändern wird.
Wir haben alle dieselbe Kultur, nur haben wir verschiedene Naturen.
Menschen gehen irrational mit Wahrscheinlichkeiten und Plausibilitäten um. Es ist absurd, daß wir in den Medien mehr über Terrorismus als über globale Erwärmung lesen. Viele von uns trösten uns damit, daß die katastrophalen Folgen nicht endgültig bewiesen seien. Natürlich nicht, aber sie sind plausibel. Und fast jeder von uns hat in seinem Leben einmal eine Versicherung, eine Brandschutz- oder eine Wasserschutzversicherung abgeschlossen, obwohl bekanntermaßen der Notfall bei weniger als einem Prozent der Versicherten eintritt. Wir lassen uns versichern, weil die Gefahr plausibel ist. Es sind oft die falschen Gefahren, die uns ängstigen. Wenn man mit über vierzig Jahren ein Kind zeugen möchte, warnt der Arzt, daß die Gefahr eines mongoloiden Kindes bei zwei bis drei Prozent liegt. Das erschreckt uns, die Wahrscheinlichkeit erscheint uns so hoch! Aber derselbe Arzt teilt uns mit, dass die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft ebenfalls bei etwa zwei bis drei Prozent liege. Auch das erschreckt uns: die Wahrscheinlichkeit erscheint uns so niedrig.
Wir müssen, denkt der Glaziologe in meinem Roman, den Graben zwischen Mensch und Natur, den altpersischen Glauben an eine Endzeit (der so viele andere Religionen inklusive aller abrahamitischen geprägt hat) überwinden. Zudem zeichnet sich das westliche Denken durch einen ontologischen Multikulturalismus aus, der davon ausgeht, dass die Natur und somit vor allem der Körper die gemeinsame Dimension alles Lebendigen darstellt, Differenzen zwischen Punks und Pastoren somit rein kulturell bedingt sind. Vielleicht stimmt vielmehr, was die Indianer im Amazonas glauben: Wir haben alle dieselbe Kultur, nur haben wir verschiedene Naturen.
Hast du nicht Angst vor der Hölle?, wird der Glaziologe eines Tages von seiner katholischen Geliebten gefragt, unvermittelt nach dem Aufwachen. Die Hölle ist kein Ort, antwortet er, die Hölle ist die Summe unserer Versäumnisse.
(Der Roman trägt den deutschen Titel „EisTau“, auf Englisch „The Lamentations of Zeno“).
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Ilija Trojanow (Bulgarian: Илия Троянов, also transliterated as Iliya Troyanov; born 23 August 1965 in Sofia), is a Bulgarian–German writer, translator and publisher. Since 2002 Ilija Trojanow has been member of the PEN centre of the Federal Republic of Germany. He received the Bertelsmann Literature Prize at the Ingeborg Bachmann competition in Klagenfurt in 1995, the Marburg Literature Prize in 1996, the Thomas Valentin Prize in 1997, the Adelbert von Chamisso Prize in 2000 and the Leipzig Book Fair Prize in the category of fiction for his novel «Der Weltensammler» (The Collector of Worlds) in 2006. In 2017 he received the Heinrich Böll Preis from the city of Cologne